Schau mich nicht so an, sagt sie und lehnt ihren linken Arm über eine halb hohe Mauer.
Es ist warm. Sie hat Haare unter den Achseln.
Unsere Gesichter sind der Sonne zugewendet, und die Luft riecht warm nach verschwitztem Parfüm und Sonnenöl. Geschirrklappern und schnarrendes Stühlerücken, weißbedeckte, lautlose Distanz der Bergspitzen auf der anderen Seite des Tales, die krachende Gesundheit der ankommenden Skifahrer mit dem wilden Fahren noch in den Augen, unbekümmertes Lachen und das schwerelose Segeln der Dohlen im Aufwind vor dem Panoramarestaurant und das schwarze Verflattern, wenn ihnen die Leute Brot zuwerfen und über allem das blaugoldene Licht der Wintermittagssonne.
Hast du mir das erzählt?
Nein, sagt Lea, doch, alles, alles was du siehst, erzähle ich dir.
Wir trinken Cafe und Calvados mit seinem bitterfruchtigen Geschmack und fühlen die Hitze aufsteigen bis in unsere Gesichter, auf denen die Sonne liegt, und ihre orangefarbenen Strahlen verspritzen phosphorgrüne Punkte hinter den geschlossenen Lidern.
Und immer so zu sitzen mit mir und Lea und ohne Forderung und endlos. Zahlen ohne Wechselgeld.
Das Fahren im Tal wird zu einem dauernden Anfluten von Bildern, die in uns hineingehen, sich auflösen, zerfasern, sich hinter uns wieder zusammensetzen und entzaubert für andere zurückbleiben.
Autobahn und Spielzeugschweiz, die sich langsam an uns vorbei dreht. Kein abgeblätterter Putz an den weißen Häusern halb am Berg, kein Industriequalm, und wenn doch, ein rauchender Schornstein vor dem goldblauen Himmel, dann sauber und weiß und heißt höchstens –
Rauchlein, sagt Lea, oder Räuchlein. Wie würdest du sagen? Räuchlein gefällt mir besser. Und der rotweiß angestrichene Schornstein sieht so unschuldig aus wie ein frisch gewaschenes, geringeltes Kindersöckchen. Kannst du dir vorstellen, daß es in der Schweiz Landstreicher gibt? Wenn schon, dann mit einem gebrauchten Lamborghini.
So sauber ist die Luft, und so weißgelb scheint die Nachmittagssonne durch die bereiften Baumgruppen, dass es Atembeklemmungen macht.
Ich bin mir zu wenig für diese riesige, gewaltige Schönheit. Meine Haut ist zu knapp, mein Körper viel zu klein, um das goldweiße, blaubereifte, brokatene Schöne in mich hineinzulassen. Es schmerzt in der Brust, im Kopf, im Bauch. Ich bin zu eng, zu dünn – ich muss aus mir raus. Ich ertrinke!
Schnell, halte an, sagt Lea und wirft sich in den Schnee auf einem Parkplatz und macht mir einen Adler.
Endlich Nebel vor St. Margareten. Er macht das Goldweiß stumpfgrau. Eine Erlösung von der Schönheit, und wir lassen uns in den Nebel fallen und genießen die Veränderung.
Eine Baustelle, einspurige Fahrbahn, Gegenverkehr, Konzentration – wie erholsam, einen Bagger zu sehen, braunrostige Bleche, aufgerissene, scharfzackige Asphaltbrocken, verdreckte Schubkarren, abgeschabter Namenszug an einem grauen Kran, eine offen stehende Tür an einem Bauwagen.
Wie schön hässlich, sagt Lea. Hast du schon einmal in einem Bauwagen? Ich auch nicht. Ich stelle mir das aufregend vor zwischen all dem Gerümpel, rosa Fleisch versus Dreckschippen, sanfte Haut versus Spitzhacken. Wie viele versusse kennst du denn?
Sie lacht und redet und ist unermüdlich im Erfinden.
Später stehen Bauernhöfe im Nebel, die sich wie dunkle Tiere in ein graues Tuch ducken. Landstraße, rot-grün-blaue Tankstellen, bremsen, schalten, Bewegung, Seitenstraßen, Zollstation wie eine Autobahnraststätte.
Ich mache das Radio leiser, obwohl wir weiter gewunken werden, abblätterndes Maria-Theresia-Gelb an Hausfassaden mit schwarzgrauen Schmutzstreifen am Sockel. Nach dem Bregenzer Tunnel ist die Sonne überraschend gelbweiß am milchweißen Himmel. Der asphaltierte Parkplatz hinter der Steinbrücke zur Insel Lindau ist fast leer. Undeutlich ist das Festland über dem Wasserstreifen zu erkennen. Der jetzt wieder aufziehende, gelbweiße Nebel macht es weiter weg als es ist.
Zwischen den fingerartig ausgestreckten Anlegemolen der Motorboote ist dickes Eis. Ein Junge wirft vom Kai aus einen Stein darauf. Ein schwächer werdendes auf- und abschwellendes Jaulen wie aus einem Synthesizer.
Der Weg vom Hafen durch die Stadt ist seit fünfundzwanzig Jahren fast unverändert seit wir als Jugendliche nach einer Radtour im Gasthaus „Zum Sünfzen“ ein Litermaß Radler übers Handgelenk tranken.
Verlassen liegt der Yachthafen auf der anderen Seite der Insel im Schatten. Die aufgebockten Boote sind dunkel gegen den hellen Seehintergrund. Kein Wind geht, kein Wellenschlag, nichts bewegt sich, keine Erwartung, kein Aufbruch, mittwinterliche Gelassenheit.
Wir genießen die Bedürfnislosigkeit. Einfach aushalten wie an den Nachmittagen und den Nächten, wenn wir uns haben und kein Radio spielt.
Plötzlich ein unerwartetes Krachblau, dass wir die Augen schließen müssen. Ein Boot auf einem Schlitten mit frischem Blau vom Kiel bis zur Wasserlinie. Ein Wasserblau, wie nur in Kinderbüchern die Kiele der Segelschiffe gemalt sind.
Im Yachthafen ist es schattig, kühl.
Wir sind glücklich.
Weiß bereifte Eiben warten wie Wächter am Weg. Die Schatten geben Gelassenheit, und der See hinter den Büschen ruht.
Das Einatmen kommt erst nächsten Winter.
Hast du das gesagt, Lea? Nein, doch. Woher weißt du das?
Ach, du Dummer: Edgar Allan Poe, die Rue Morgue, die Unterhaltung zwischen den beiden Männern, wo der eine immer genau weiß, was der andere denkt, weil bestimmte Dinge beim Gehen und Sehen bestimmte Gedanken auslösen. Was habe ich denn gedacht?
Ich atme langsam mit meinen Schritten und bin in den Booten und den Eiben und dem Schatten und dem Nachmittag. Das Konzentrat eines Bootes, eines Schattens, einer Eibe, eines Nachmittags.
Bis zum Hafeneingang mit den Löwen und dem Leuchtturm ist kaum Zeit vergangen. Immer noch Nachmittag. Langsames Zeitverbringen. Mühelos verschmelzen Dinge und Situationen mit dem Zeitgefühl, werden relativ und unwichtig, und die Zeit hat alles eingehüllt ohne Anfang und Ende, fällt mit dem Rauhreif auf die Welt, verdunstet mit der Sonne und löst sich auf.
Die Hotels am halbrunden Hafen sind still und leer. In den geschlossenen Glasveranden stehen geflochtene Bistrostühle auf den Tischen, und die Lampen sind mit geklöppelten Deckchen zugehängt.
Fehlt nur noch Tadzio, sagt Lea und hängt sich bei mir ein.
Sie hängt sich selten bei mir ein, und wenn doch, dann spüre ich ihren Beckenknochen durch meinen Mantel. Ich habe ihr schon gesagt, wie eifersüchtig ich auf das Stück Mantel bin, das ihren Beckenknochen berühren darf. Du hast den süßesten Beckenknochen im Universum.
He, Tadzio fehlt, sagt Lea. Oder bist du wieder eifersüchtig?
Käme dieser hübsche Junge im Matrosenanzug und mit halbhohen, schwarzen Schnürstiefeln direkt aus Thomas Manns Roman durch die Tür eines dieser Hotels aus der Jahrhundertwende – wäre auch dies nur ein Beweis.
Wir brauchten immer Beweise.
Beweise für unser Dasein, für unsere Liebe.